Samstag, 11. Januar 2014

Appell an das Gewissen

Appell an das Gewissen der Menschheit.
Von Prof. Dr. Hartmut Kegler
,Wir haben uns in den beiden letzten Kriegen grausiger Unmenschlichkeit schuldig gemacht und würden es in einem kommenden noch weiter tun. Das darf nicht sein." Als Konsequenz aus dem Gebot der Ehrfurcht vor dem Leben und den Erfahrungen des 2. Weltkrieges rückte spätestens 1951 die Friedensfrage in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit Albert Schweitzers. Ehrfurcht vor dem Leben erschien ihm nicht nur als denknotwendig, sondern ebenso als lebensnotwendig. Ungeachtet seines hohen Alters und der Inanspruchnahme durch sein Hospital in Lambarene appellierte er in Ansprachen, Artikeln und Briefen unermüdlich an die Menschheit und die Regierenden, die atomare Rüstung zu beenden und alle Atomwaffen zu ächten. Seine Argumente schöpfte er aus der Geschichte der Philosophie von Konfuzius bis Kant und Goethe, aus der Naturwissenschaft, insbesondere von Albert Einstein, aus der Theologie und dabei hauptsächlich aus der „Rechtsurkunde des freisinnigen Christentums", wie er die Bergpredigt nannte, aus dem Völkerrecht und der Charta der Vereinten Nationen sowie aus der Ethik und deren Humanitätsideal, das ein neues Denken verlangt. Er kam zu dem Schluss: ~Die höchste Erkenntnis, zu der ein Mensch gelangen kann, ist die Sehnsucht nach Frieden."
Wie seine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben, ist auch seine Warnung vor der Atomrüstung nach wie vor aktuell, obwohl man seinen Namen heute nur noch selten nennt: Albert Schweitzer, den Winston Churchill als „Genie der Menschlichkeit" und Pater O'Brien als die „bedeutendste Seele der Christenheit" bezeichnet hatten.
Am 23. April 2007 jährt sich zum 50. Mal der Tag, an dem Schweitzer seinen ersten Appell an die Regierenden und die Völker der Welt gerichtet hat, dem Wahnsinn des Wettrüstens und der atomaren Bedrohung ein Ende zu setzen.
Schweitzer eröffnete diesen Appell mit dem Hinweis auf den Beginn der US-amerikanischen Wasserstoffbombentests am 1. März 1954 auf den Bikinis sowie auf die darauf folgenden gleichen Tests der Sowjetunion in Sibirien. Im Gegensatz zu den bisher üblichen Artilleriegeschossen sei es mit den Atomwaffen „ein anderes Ding": Deren radioaktive Strahlungen wirken noch lange nach und bedeuteten „eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Menschheit". Doch „die einzelnen und die Völker fühlen sich nicht bewogen, der Gefahr, in der wir uns befinden, die Aufmerksamkeit, auf die sie leider Anspruch hat, zuteil werden zu lassen." Sie müsse ihr vorgehalten und begreiflich gemacht werden. Mein Alter und die Sympathie, die mir die von mir vertretene Idee der Ehrfurcht vor dem Leben eingetragen hat, lassen mich erhoffen, dass meine Mahnung mit dazu beitragen kann, der Einsicht, die Not tut, den Weg zu bereiten." Albert Schweitzer beschloss seinen denkwürdigen Appell mit der Hoffnung auf eine öffentliche Meinung, die sich von der Vernunft leiten lässt und die Staatsmänner zu Handlungen veranlasst.
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Dieser erste Appell und die nachfolgenden Appelle wurden über die Radiostation Oslo, der Stadt der Friedensnobelpreise, verbreitet. Elf Tage nach dem Göttinger Appell von achtzehn namhaften Wissenschaftlern gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr trat Schweitzer erstmalig an die Öffentlichkeit. Zuvor hatte er sich durch den mit ihm befreundeten Albert Einstein Fachkenntnisse über die Atomphysik angeeignet. Im Vorwort zu Schweitzers Abhandlung „Friede oder Atomkrieg" bemerkte hierzu Erhard Eppler im Jahr 1984: „Was Albert Schweitzer vor zwei Jahrzehnten zu Atomrüstung, Atomtests und Atomkrieg zu sagen hatte, war eher trockene Information, nüchterne Aufklärung über Sachverhalte, allerdings so präzise, dass dem auch heute wenig hinzuzufügen ist." Diese Feststellung trifft ebenso fünf Jahrzehnte nach dem ersten Osloer Appell noch zu.
Schweitzer äußerte die Befürchtung, dass radioaktive Dauerbelastungen zunehmende Blut- und Knochenmarkserkrankungen, Tot- und Missgeburten erwarten lassen. „Wir sind also genötigt, jede Steigerung der bereits bestehenden Gefahr durch weiterhin stattfindende Erzeugung von radioaktiven Elementen nach Explosionen von Atombomben als ein Unglück für die Menschheit anzusehen, das unter allen Umständen verhindert werden muss." Entgegen seiner früheren Einstellung erwartete er von allen Menschen, durch Proteste, Briefe und Resolutionen eine Friedensbewegung ins Leben zu rufen und im Sinne Mahatma Gandhis gewaltlosen Widerstand zu leisten. Selbst trat er der amerikanischen Friedensgruppe SANE bei. Schweitzer fand in seinen Bemühungen weltweite Unterstützung auch durch Persönlichkeiten wie UNO-Generalsekretär Dag Hammerskjöld sowie durch Erich Fromm, Martin Buber und Martin Niemöller.
Dem ersten „Osloer Appell" folgten später drei weitere Appelle, weil Schweitzer die Aufrüstung der Großmächte unter dem Vorwand des „Gleichgewichts der Kräfte" zutiefst beunruhigte. Er kritisierte die Großmächte wegen ihres Glaubens, durch Stärke und militärische Überlegenheit den Frieden sichern zu wollen. Die weltpolitische Lage sei aber durch die Herstellung immer effizienterer Massenvernichtungswaffen keineswegs sicherer geworden: „In einem Atomkrieg gibt es keine Sieger, sondern nur Besiegte." Das Ergebnis sei ein gemeinsamer Selbstmord. Deshalb empfahl er in seinem dritten Appell „Verhandlungen auf höchster Ebene", die gründlich vorbereitet sein sollten. Seine wichtigste Forderung bestand aber darin, dass die Vertragspartner endlich beginnen sollten, sich wieder gegenseitig zu vertrauen. „Wir können in diesem uns lähmenden Misstrauen nicht weiter verharren. Das Bewusstsein, dass wir miteinander Menschen sind, ist uns in Kriegen und Politik abhanden gekommen. ... Der Geist der Vernünftigkeit und der Menschlichkeit wird aufgerufen!"
In einem seiner 1962 an den USA-Präsidenten John F. Kennedy gerichteten Briefe heißt es: „Wollen Sie, bitte, die Freundlichkeit haben, mir altem Manne zu verzeihen, wenn ich mir die Freiheit nehme, Ihnen wegen der Testversuche zu schreiben. ... Die Welt hat es dringend nötig, dass die Atommächte so bald wie möglich ein Abrüstungsabkommen unter wirksamer internationaler Kontrolle schließen. ... Wenn dies jetzt nicht erreicht werden kann, wird sich die Welt in einer hoffnungslosen und gefährlichen Lage befinden."
Ein entsprechendes Schreiben sandte Schweitzer auch an KPdSU-Generalsekretär Nikita S. Chruschtschow.
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Beide Politiker haben dem greisen Mahner vom Ogowe auch geantwortet. In einem Brief von Kennedy heißt es sogar: „Nichts liegt meinem Herzen näher als die Hoffnung, generelle und gänzliche Abrüstung unter Bedingungen zuverlässiger internationaler Kontrolle zustande zu bringen."
Tatsächlich konnte im Jahr 1963 ein Abkommen geschlossen werden, in dem Atombombentests in der Atmosphäre und im Wasser untersagt wurden. Zur generellen Ächtung aller Atomwaffen, wie sie Schweitzer im Auge hatte, ist es bis heute leider nicht gekommen.
Bereits in seiner Rede anlässlich der Entgegennahme des Friedensnobelpreises im Jahr 1954 forderte Schweitzer die Welt auf: „Wagen wir die Dinge zu sehen, wie sie sind. Es hat sich ereignet, dass der Mensch ein Übermensch geworden ist. ... Dieser Übermensch leidet aber an einer verhängnisvollen Unvollkommenheit. Er bringt die übermenschliche Vernünftigkeit, die dem Besitz übermenschlicher Macht entsprechen sollte, nicht auf. ... Damit wird nun vollends offenbar, was man sich vorher nicht recht eingestehen wollte, dass der Übermensch mit dem Zunehmen seiner Macht zugleich immer mehr zum armseligen Menschen wird. ... Was uns aber eigentlich zum Bewusstsein kommen sollte und schon lange vorher hätte kommen sollen, ist dies, dass wir als Übermenschen Unmenschen geworden sind."
Diese Worte Albert Schweitzers haben ihre Gültigkeit behalten. Weder hat die Atomrüstung abgenommen, noch hat sich die Anzahlt der Atommächte verringert. Atomare Waffen haben in den jüngsten Kriegen unzählige Menschen getötet, lebensgefährlich verletzt und auf Generationen hin geschädigt. Obwohl die einstigen Alliierten der Antihitler-Koalition in der von ihnen mitverfassten Charta der Vereinten Nationen versichert hatten, alles zu tun, um künftige Kriege zu verhindern, haben sie dennoch Kriege geführt. Albert Schweitzer hatte Recht, wenn er den Gesinnungen den Vorrang vor den Maßnahmen einräumte. Maßnahmen nützen nichts, wenn nicht entsprechende Gesinnungen dahinter stehen. „Eine öffentliche Meinung dieser Art bedarf zu ihrer Kundgebung keiner Abstimmung und keine Kommissionsbildung. Sie wirkt durch ihr Vorhandensein. Kommt es zur Einstellung der Versuche mit Atombomben, so ist dies die Morgendämmerung des Aufgehens der Sonne der Hoffnung, auf die unsere arme Menschheit ausschaut." „Nur in dem Maße, als durch den Geist eine Gesinnung des Friedens in den Völkern aufkommt, können die für die Erhaltung des Friedens geschaffenen Institutionen leisten, was von ihnen verlangt wird."
Seiner Gedenkansprache zum 100. Todestag des französischen Philosophen Jean Jacque Rousseau gab Victor Hugo den Titel „Appell an das Gewissen". Albert Schweitzers Aufruf zum Widerstand der Völker gegen die verhängnisvolle Atomrüstung trug den Titel „Appell an die Menschheit". Beide Aufrufe sollten das Gewissen der Menschheit wachrütteln. Was Hugo über Rousseau sagte, traf auch für Schweitzer zu: „Er hatte die Zustimmung der Zeitgenossen und der Nachwelt, aber auch das Hohngelächter und den Hass derer, die die unversöhnliche Vergangenheit denen schenkt, die sie bekämpft haben." Böswillige Politiker und Medien reagierten auch auf Schweitzers Anti-Atom-Appelle mit Anfeindungen und Diskriminierungen, um ihn als unglaubwürdig hinzustellen: Man verspottete ihn als „Cafehaus-Pazifisten", verdächtigte ihn einer „Moskauhörigkeit" und verunglimpfte sein segensreiches Hospital. Doch der „Weise aus dem Urwald" ließ sich davon nicht beeindrucken: „Wer sich vornimmt, Gutes
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zu wirken, darf nicht erwarten, dass die Menschen ihm deswegen Steine aus dem Weg räumen, sondern muss auf das Schicksalhafte gefasst sein, dass sie ihm welche drauf rollen."
In seinem schon erwähnten Appell rief Victor Hugo auch aus-. „Nein, es kann nicht sein, dass die Frau im Schmerz gebärt, dass die Menschen geboren werden, dass die Völker arbeiten und säen, dass der Bauer die Felder fruchtbar macht und der Arbeiter die Städte, dass die Denker denken, dass die Industrie Wunder tut, dass das Genie Wunder tut, dass die ungeheure menschliche Tätigkeit in Gegenwart des gestirnten Himmels die Anstrengungen und Schöpfungen vervielfältigt, um zu dieser entsetzlichen Schaustellung zu gelangen, die man ein Schlachtfeld nennt." Im selben Sinne flehte Wolfgang Borchert in seinem Text „Dann gibt es nur eins!: Sagt NEIN!. Denn wenn ihr nicht NEIN sagt, dann wird der letzte Mensch mit zerfetzten Gedärmen und verpesteter Lunge antwortlos und einsam unter der giftig glühenden Sonne und unter wankenden Gestirnen umherirren, einsam zwischen den unübersehbaren Massengräbern und den kalten Götzen der gigantischen betonklötzigen verödeten Städte, der letzte Mensch, dürr, wahnsinnig, lästernd, klagend - und seine furchtbare Klage: WARUM? Wird ungehört in der Steppe verrinnen ..."
Schweitzers internationale moralische Autorität, die Einstein mit der Mahatma Gandhis verglich, hatte Gewicht und zeigte Wirkung. Er hat die Einstellung der Versuche mit Atombomben in der Atmosphäre mitbewirkt und noch erlebt, leider nicht deren generelle Ächtung. Auf diesen Sonnenaufgang wartet die Menschheit bisher noch vergebens. Es fehlte gewiss nicht an öffentlicher Meinung, wohl aber an gegenseitigem Vertrauen und staatsmännischem Mut zum Verzicht auf diese barbarischste Form militärischer Gewalt. Noch immer schwebt das Damoklesschwert eines atomaren Infernos über unserer Mutter Erde. Die größte der inzwischen acht Atommächte fordert von den kleineren den Verzicht, besitzt selbst aber das umfangreichste Arsenal und ist zu keinem Verzicht bereit.
Doch Schweitzers Appelle gegen die Atomgefahr und für die Abrüstung haben bis heute großen Einfluss, auch wenn man sich seines Namens immer seltener erinnert. Die Internationale Vereinigung der Ärzte gegen den Atomkrieg IPPNW berief sich ausdrücklich auf ihn. Er gehörte zu den ersten, die Proteste und Aufrufe aus der gesamten Bevölkerung forderten. Ein wachsendes Vertrauen zwischen den Großmächten und der Beginn einer wahren Abrüstung sind auch dem Druck der Bevölkerung vieler Länder zu verdanken.
Auch wenn wir im Erkennen des gegenwärtigen Zustandes auf unserer Erde zum Pessimismus neigen, so dürfen wir im Blick auf die Zukunft unseren Optimismus nicht aufgeben und den Glauben an die Kraft der Wahrheit und des Geistes nicht verlieren. Sie wird sich ganz gewiss als stärker erweisen als alle Machtbesessenheit, Habgier und Verantwortungslosigkeit, die zur Zeit das Geschehen überschatten.
Literatur
Victor Hugo: Appell an das Gewissen. Verlag Rütten und Loening Berlin 1952 Albert Schweitzer: Friede oder Atomkrieg. C. H. Beck Verlag München 1984 Albert Schweitzer: Menschlichkeit und Friede. Verlagsanstalt Union Berlin 1991

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